Als Anfang der 1920er Jahre die Türkei durch eine nationalistische, tendenziell liberalere und pro-europäische Bewegung grundlegend reformiert wurde, befand sich Mustafa Kemal Atatürk noch in der Blüte seines männlichen Lebens. Die Jungtürken, die eine Reformbewegung innerhalb des osmanischen Reiches losgetreten hatten und nach ca. 40 Jahren damit auch erfolgreich waren, zählten zwar bereits viele Männer mittleren Alters in ihren Reihen, konnten sich aber doch auf das große Potenzial einer jungen und dynamischen Bewegung stützen. Jungtürken hieß nicht nur, dass man das osmanische Reich verjüngen, also modernisieren wollte, sondern bedeutete auch, dass es sich um mehrheitliche junge Männer handelte, die hier die Geschichte ihrer Nation prägen wollten.
Menschen sind einerseits Kinder ihrer Zeit und andererseits die Träger der Ideen ihrer Zeit. Schon ab der zweiten oder dritten Generation wird es schwieriger das zu vermitteln, was die Väter bzw Großväter einst im Sinn hatten. Und mit den Jungtürken passierte das, was unvermeidlich war. Sie wurden alte Türken, die zwar eine modernisierte Türkei aus den Resten eines Imperiums schufen, sich aber gegenüber einer immer schneller wachsenden, sich re-islamisierenden Jugend nicht mehr behaupten konnten. Der Machtwechsel in der Türkei hat auch mit der Demographie zu tun, mit dem Anwachsen der Städte, der Zuwanderung aus dem Innern des Landes an die Küsten. Was die Jungtürken in Istanbul in Ankara erschufen, galt ihrer Generation und ihren Kindern.
Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Ägypten die Landbevölkerung nach Kairo strömte, war dies das langsame aber sichere Ende des liberal-säkularen Ägyptens. Das islamisch geprägte Landvolk brachte nicht nur mehr Kinder zur Welt, sondern prägte auch die Gesellschaft massiv, sorgte für eine Abkehr von den nationalistischen und westlich orientierten Eliten. Die Geschichte der Re-islamisierung der Türkei ist ähnlich, da die moderne Republik Türkei, eine Schöpfung von Kemal Attatürk, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine laizistische Werteordnung und Orientierung Richtung Europa einsetzte, die dem Generationswechsel nicht standhalten konnte.
Als der Wohlstand wuchs, sank auch die Geburtenrate im westlichen Teil des Landes, das bei und um Istanbul herum relativ europäisch geprägt, also westlich ist. Hier pulsierte einst das Herz des kemalistischen Ideals, die Republik von Atam, während im anatolischen Hinterland noch die Anhänger der alten Ordnung halb vergessen ihr Dasein fristeten. Beginnend mit den 50er Jahren erlebte aber auch die Türkei einen wirtschaftlichen Aufschwung und den Anstieg der Binnenmigration vom Hinterland in die Städte. Und wie das meist ist, bringen die Menschen ihre Ideen und ihr Wahlverhalten mit sich. Die Zentraltürkei und der Osten des Landes haben mehrheitlich etwas höhere Geburtenraten, bei gleichzeitig starker Abwanderung in den westlichen Teil des Landes, wo die großen Städte liegen. Vor zwei Jahrzehnten wirkte sich dieser demographische Druck sogar noch stärker aus
Die dritte Generation nach Atatürk tickte bereits anders und ganz langsam begann die schleichende Re-Islamisierung der Türkei, die in den Schulen anfing und sich über die Universitäten bis ins Militär ausbreitete. Heute spielen die Kemalisten keine Rolle mehr und fristen ein Schattendasein, aus dem sie auch in den nächsten zehn Jahren nicht ausbrechen werden. Die Türkei Atatürks ist tot und kehrt nicht wieder – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Denn wer die Geschichte als Zyklus versteht, kann sich vorstellen, dass auch in der neo-osmanischen Türkei in einigen Generationen möglicherweise große Veränderungen dafür sorgen werden, dass neue Jungtürken aus dem Staub ihrer Geschichte emporsteigen und die alten Eliten der islamischen Republik Türkei ablösen.
Einen nicht unähnlichen Prozess können wir auch in Europa betrachten, wo die liberal-linken Eliten der 68er nach etwa zwei Generationen zunehmend in Bedrängnis geraten und mit ansehen dürfen, wie ihr vermeintliches Himmelreich EU durch ihre Ignoranz und Arroganz zu Grunde geht. Dass die Jugend Europas mit wenigen Ausnahmen rechtspopulistisch wählt, ist ein Indiz dafür, dass die Zeichen auf Sturm stehen. Veränderungen stehen bevor, die den Kontinent erschüttern und womöglich eine neue Ära einläuten werden. Sicherlich nicht morgen oder übermorgen, aber schon bald. Ähnlich den Jungtürken dürften sich bald die jungen Europäer in der Lage sehen, das Schicksal ihres Kontinents zum Positiven oder Negativen zu verändern und ein altes und verkrustetes System abzulösen oder zu reformieren.
Quellen: Torn Country: Turkey between Secularism and Islamism – https://amzn.to/2vUSTPl (Affiliate Link)