Wie schön, wenn man es nicht versteht …

in ganzwenigtext •  6 years ago 

… mitsingen alleine reicht aber leider manchmal auch nicht!

Wie ihr ja bereits mitbekommen habt, musste der ursprünglich sonntags erscheinende BRenNgLAS-Wochenrückblick in der vergangenen Woche den Platz auf der Ersatzbank einnehmen. So hatte der Ostersonntag eigentlich im Vorfeld alles in seinem Gepäck, was einen Feiertag zu einem Tag werden lassen kann, der dem Vergessen geweiht scheint.



Wenn sich als unumstrittene Höhepunkte die Worte an die Stadt Rom, den Erdkreis und der Nachmittagskaffee bei Oma Otilie ankündigen, sollte eigentlich dem Gedanken, einfach nur im Bett zu bleiben, mehr Beachtung beigemessen werden. Dazu fehlte mir jedoch die Zeit und die Gelassenheit, mich auf zwei Katastrophen einzulassen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und dazu in ein Gedankenchaos stürzten, in dem der klare Gedanke überhaupt keine Überlebenschance besaß.

Den unrühmlichen Anfang bereitete mir der Nachrichtenticker, der mir die neuesten Meldungen von der Insel Sri Lanka an den Kopf schleuderte. Der Staat, der früher einmal Ceylon hieß und von dem ich als Kind der Meinung war, dass die Menschen dort zuhause sind, die für den bitteren Tee verantwortlich sind, den meine Mutter mir permanent schmackhaft zu machen versuchte. Irgendwann bin ich dann trotzdem zu der Erkenntnis gelangt, dass wohl der Zwischenhändler Lipton sowie meine persönliche Teeköchin mehr Anteil am morgendlichen Desaster trugen, als die Ceylonesen.

Viele Jahre später, als ich das Teetrauma mit meiner Flucht aus dem Elternhaus endlich überwinden konnte, da sprach auch kaum ein Mensch noch von Tee und Ceylon, sondern man starrte gebannt auf die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Singhalesen und Tamilen. Egal, wie viel Neid, Hass und Gewalt sich auch entluden, unter dem neuen, gemeinsamen Schirm, der den Namen Sri Lanka erhielt, schien in den letzten Jahren doch auch die dringend benötigte Ruhe ihren Platz gefunden zu haben.
… und jetzt diese grausamen Taten, die in Sekundenbruchteile alles zerstören, was sich in mir an Hoffnung und Zuversicht aufgebaut hatte.

Die zweite Katastrophe, in ihrem Ausmaß unvergleichbar geringer einzuschätzen, zu meinem Leidwesen jedoch beinahe hautnah an mir dran, saß nach einer ausgiebigen Klingelattacke an meiner Haustür kurze Zeit später auf unserer Terrasse und malträtierte meine Frau mit der Frage, wann ich endlich aus den Federn zu kriechen gedenke. Selbstverständlich hat das Unheil auch einen Namen - und das von Geburt an. Genauer gesagt seit fast 50 Jahren, als die verantwortlichen Eltern das menschliche Tiefdruckgebiet mit der Bezeichnung Marko in die ländliche Atmosphäre entließen.
Marko nahm sich nie ein Beispiel an anderen Tiefdruckgebieten und verzog sich nach einiger Zeit, sei es nach Bosnien, Slowenien oder gar gleich auf einen anderen Kontinent. Nein, Marko zirkuliert konsequent an Ort und Stelle und begießt mich in zeitlich genau einzuordnenden, regelmäßigen Abständen mit einem verbalen Hagelschauer, weil ich weder bei den Hymnen auf sein geliebtes Heimatland einstimmen, noch ihn auf seinen Ausläufern zu den sonntäglichen Messen innerhalb der kirchlichen Gemäuer begleiten möchte.

Letzteres schmerzt meinen direkten Nachbarn, so behauptet er jedenfalls, besonders, da ich, nicht zu vergessen auch meine Frau, doch eigentlich ganz nette und umgängliche Menschen seien, jedoch mit unserer lutheranen Weltanschauung irgendwie uns dann doch nicht so richtig in die dörfliche Gemeinschaft einfügen möchten. Hierbei sollte nicht verschwiegen werden, dass in meiner jetzigen Heimat das Substantiv als auch das Adjektiv Lutheran in seiner Definition unumstritten ist: Ungläubigkeit = der Menschheit Untergang!
Man könnte zwar auch Atheist zur besseren Veranschaulichung heranziehen und damit die Charakterisierung vervollständigen, doch ist lutheran unumstößlich um ein Vielfaches niederträchtiger. Der Atheist hat das mit dem Kommunismus lediglich noch nicht so richtig überwunden. Der ist damit sowas wie der arme Hund, an dem die Zeit einfach vorbeigezogen ist. Eben nicht ganz bei Verstand. Somit ein körperliches Manko, das mir nicht schuldmindernd angerechnet werden kann. Marko ist der festen Überzeugung, ich mache das mit voller Absicht und aus reiner Schikane, das mit meiner Ablehnung gegenüber dem klerikalen Gehabe.

Aber, und das muss ich meinem Nachbarn hoch anrechnen, er gibt nicht auf. Wie er es schafft diesen Funken Hoffnung am Glühen zu halten - ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.
Jedenfalls okkupierte Marko am Ostersonntag meinen Lieblingssessel auf der Terrasse, ließ sich von meiner Frau den türkischen Mokka einschenken, schlürfte meinen 15 Jahre alten Birnenschnaps und empfing mich, noch reichlich abwesend aus der Wäsche blickend, mit der Aufforderung in die Sonntagshose zu springen und ihn beim Kirchgang zu begleiten, da am heutigen Tag die Geschenke der Natur vom Vertreter Gottes gesegnet werden.
Was genau das Tiefdruckgebiet unter dem Begriff Geschenke der Natur versteht, offenbarte mir ein Blick in den Korb, der dicht neben dem morgendlichen Spielverderber geparkt war.
Bei katholischen Christen im Nordwesten Kroatiens gelten der geräucherte Schinken, die hausgemachte Salami, die Seite Speck aus der Salzlauge, der Hefekuchen mit Walnuss-Füllung und die Blätterteigröllchen mit Marmeladenfüllung jedenfalls zu den Pflanzen der Natur, die es zu ehren und zu segnen gilt.



Noch immer mit den schmerzenden Nachrichten aus Sri Lanka im Nacken und auf der intensiven Suche nach einer Ausrede, das mir liebste Teil, was die Natur mir geschenkt hat, nicht vor dem Altar und auch nicht zur Segnung freilegen zu wollen, betätigt ich den Knopf am Radio. Einfach nur um Zeit zu gewinnen.

Schon bei den ersten Takten, die aus den Boxen schallten, dem wohlbekannten Klavier-Intro, überlief mich ein kalter Schauer. Mein erster Gedanke: Das richtige Lied zur richtigen Zeit. Es folgte eine innere Verbeugung vor dem Programmgestalter meines Heimatsenders.

Imagine there's no heaven
It's easy if you try
No hell below us
Above us only sky

Während ich der Stimme von Ray Charles lausche, der meiner Meinung nach noch mehr Intensität in John Lennons Komposition legt und sich mein Magen mehr und mehr verkrampft, weil Bilder wieder hochkommen, die ich wohl mein ganzes Leben nicht mehr loswerde, überrascht mich das Dauertief Marko plötzlich mit heiteren, gar sonnigen Aufhellungen.
Als wären Text und Melodie dem Mann, der 12 Kühe, 6 Schweine, Hühner und eine Frau sein Eigen nennt, auf den Leib geschrieben worden, macht Marko der Soul und Jazz-Legende aus Georgia das Mikrofon streitig. Ich staune nicht schlecht angesichts der eigentlichen Mission, die Marko auf meine Terrasse getrieben hat.
Doch noch kann Ray aus Georgia sich behaupten.

Imagine there's no countries
It isn't hard to do
Nothing to kill or die for
And no religion, too

Anstatt sich nach diesem sehnsüchtigen Blick in die Zukunft für einen kurzen Moment zu besinnen, überkommt meinen abgöttisch sein Heimatland liebenden und blind gläubigen Katholiken der Drang den Pianisten in das zweite Glied zu verweisen. Bei Marko schien die innere Sonne aufzugehen.

You may say that I'm a dreamer
kllkl,But I'm not the only one
I hope someday you'll join us
And the world will be as one
Imagine no possessions
I wonder if you can
No need…

Genau in dieser Passage konnte ich dann einsteigen. Nicht gegen, sondern mit Ray Charles und meinem Nachbarn Marko. Als der letzte Takt verklungen war, verkündete ich meinem Freund, Nachbarn und Tiefdruckgebiet Marko, dass ich ihn leider nicht zur Segnung der Naturgeschenke begleiten könne.
Woraufhin Marko zu mir sagte, dass er das eigentlich schade finde, zumal uns doch John Lennon gerade gesagt habe, dass es ohne den Glauben nicht funktioniert.

Imagine, if you finally would understand …

Hinweise auf lesens- und hörenswerte Beiträge:

Der Wegweiser für alle, die das für sie Wichtige suchen: steemwiki
Wer interessiert am Jazz ist, der findet hier was: #jazzfriday
Soll es was ganz Leckeres für den Magen sein: #w74-rezepte
Kurzgeschichten oder Ausflüge in die deutsche Sprache, dann wird man sicher fündig unter: #ganzwenigtext
Alte Ausgaben des Wochenrückblickes liegen hier: #wochenrueckblick
Mahnende Worte von der Kanzel herab (oder von wo auch immer): #sonntagspredigt
Nicht zu vergessen: BRenNgLAS

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"Die Hölle ist leer, und alle Teufel sind hier." (William Shakespeare, Der Sturm)

Auch hier wieder ein Kompliment an deinen Schreibstiel.

Ob nun Rom zu Sri Lanka oder auch Ceylon (welche Grenze auch immer bevorzugt wird) tatsächlich Gegensätze sind, zweifle ich manchmal etwas stärker an. Oft kommt mir der Gedanke, dass hier gar kein Gegensatz auszumachen ist. Was wäre Rom ohne Sri Lanka oder Sri Lanka ohne Ceylon. Was wäre das "klerikal Richtige" ohne das „lutherisch Falsche", oder das „lutherisch Falsche“ ohne das „atheistisch Kommune“ (wobei ich diesen Zusammenhang des atheistischen „nicht ganz richtig im Kopf“ mit Kommunismus nicht ganz hinbekommen. Ist nun Kommunismus „nicht ganz richtig im Kopf oder Atheismus, oder Beides?). Was wäre Gott ohne den Teufel? Was wäre der der Glaube ohne Beides? Woher bekäme der gläubige Verkünder des „Richtigen“ sein Brot ohne dessen "ungläubigen nicht richtig im Kopf abtrünnigen der Menschheit Untergang“?
Was wäre John Lennon ohne "Nothing to kill or die for And no religion“ und ohne „Imagine“? Hätte er auch Brot ohne das „Falsche-Richtige“?
Ohne „Plus“ keine Energie, ohne „Minus“ keine Nutzung der Energie, ohne „Beides“ kein Energiefluss.
Ohne „Oben kein Unten“ ohne „Links kein Rechts“ ohne „Vorne kein Hinten“ (nur nebenbei: fällt dir auf, dass der Raum 6 Dimensionen hat? Wir sprechen doch immer von 3?)
Ohne „ICH“ kein „DU“, ohne „DU“ kein „WIR“
ohne „ICH“ ein „NICHTS“ (Altruismus mal anders gedacht. Ohne ICHtransfer kein „DU“; ohne ICHtransfer Krieg und Leid.) Ohne „ICH“ keine „goldene Lebensregel“.

Wie immer ein gelungener Beitrag.

BGvZ

  ·  6 years ago (edited)

In deinem Gedanken- und Wortspiel könnte ich versinken. Zu keinem Zeitpunkt käme mir beim Abtauchen in den Zeilen die Idee Hilfe suchend nach Sauerstoff zu schnappen.
Du hebst all das auf eine intellektuelle Ebene, was ich meinem Nachbarn möglichst unkompliziert auf die Zunge zu legen versuchte.
Während deine Sichtweise den konstruktiven Dialog geradezu herausfordert, gibt sich Marko, das ständig rotierende Allzeittief, mit meiner Zusicherung zufrieden, auch in diesem Jahr seine Steuererklärung im für ihn positiven Sinn zu manipulieren und vergisst spontan alle Glaubensfragen bis zum nächsten kirchlichen Feiertag.
Die Welt funktioniert oft einfacher als man ahnt.
Aus diesem Grund schenke ich meinem Nachbarn lieber noch einen Birnenschnaps ein, als ihm den Text eines Liverpooler Jungs zu erklären, der damals auch nur froh war endlich wieder einen klaren Gedanken auf das Papier bringen zu können. Drogen sollen ja enge Verwandte der Religionen sein. Da hatte Brecht nicht ganz unrecht.

Beste Grüße
Wolfram

Alles richtig gemacht, weiter viel Erfolg...

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N E U - jeden Donnerstag findet bei uns ab 19 Uhr die Quasselstunde statt wo du nicht nur mit uns reden kannst - es werden auch tolle Preise verlost

Der Tragödie zum Trotz, habe ich mich wieder köstlich amüsiert beim lesen und sende dir auf diesem Wege, mit einem doch neidischen Blick auf das Osterkörbchen, meine atheistischen Grüße. 😎

Also noch ein vollkommen verpeileter, planloser und unbelehrbarer Kommunist mehr in unseren Reihen.

muelli.png

Was denkst du, muss ich noch Fahnen nachbestellen?

Oh nein, bloß nichts nachbestellen!
Es muss auch ohne Fahnen gehen. 😎

Guten Morgen Wolfram,
Sehr gut geschrieben gefällt mir gut!

Lieben Gruß
knochenhd

Guten Morgen Wolfram, wie immer toll geschrieben, man kann sich Marko wirklich gut vorstellen :) Hab einen wundervollen Tag. Alexa