Wo fängt Freiheit an und hört indoktrinierte Angst auf?

in gesellschaft •  6 years ago 

Dieser Artikel ist eine Art Fazit der Geschehnisse des gestrigen Tages (oder eher des gestrigen Abends, ich frage mich seit heute Nacht tatsächlich, ob ich gestern nicht andere Inhalte hätte liefern können), den letzten Anstoß gab aber gerade @love-your-wild mit ihrem Artikel von eben:
... und dieses ungute Gefühl bleibt trotzdem ...
Naja, und der @tyramisoux ist auch ein bißchen schuld.

Als ich im Ostteil von Berlin Plattenbauten fotografierten, erwarteten mich 3 Skinheads in der S-Bahn. Die hatten das von einem Balkon mitbekommen. Hatte die durch mein 10mm Weitwinkelobjektiv garnicht gesehen.
Ende vom Lied: Mein Pfefferspray leer, dafür Anzeige wegen "schwerer Körperverletzung". Die wurde zum Glück zügig eingestellt. Ganz klar Notwehr und Pfefferspray in Lebensmittelqualität das man natürlich nur zur Verteidigung vor scharfen Hunden mit sich führt, geht klar in Berlin.

(Haben die Jungs gewußt, welche Bahn er nehmen wird? Sich vielleicht in selbige gebeamt? Seit wann kann man in Berlin nicht mehr unter die Leute gehen ohne Pfefferspray? Das sind so Fragen, die mir in einigem Entsetzen hochkamen und erstmal im Halse stecken blieben. Ich stelle eigentlich ungern Leute unter Generalverdacht ...)

Ich war auch mal n junges Mädel. Damals (mit 19-22 Jahren) bin ich mindestens einmal pro Woche max. 10 Minuten durch einen dunklen Wald gelaufen. Allein, ohne Schutz. Ich hab mich damit sicher gefühlt und dementsprechend auch abgelehnt, mir für nächtliche Ausflüge in der Innenstadt von Frankfurt am Main (mein damaliger Wohnort) ein Pfefferspray kaufen zu lassen. (Ja, kaufen zu lassen. Der Input kam aus der Familie, aber aus 2. Hand. Eine Frau, die mich nicht oder nur flüchtig vom Sehen kannte, hatte dringend zum Kauf geraten.)
In gewisser Weise war das also Vor-Internet-Zeit. Man hätte zu einem Laden fahren müssen, um sich zu informieren. Ultrapeinlich. Wollten wir etwas mit dem Thema Waffen zu tun haben? Nö, eigentlich nicht ...
Und irgendwie war das Thema nach meinem Nein tatsächlich beendet und kam auch seitdem nie wieder auf.

Man kann jetzt natürlich sagen: ich hätte Glück gehabt.

Mein Hauptargument gegen Pfefferspray ist aber (und war es damals, zur Jahrhundertwende, schon): es gibt Menschen, die tragen mit einer gewissen Berechtigung im Alltag Waffen oder andere Abwehrausrüstung, und es gibt viele Menschen, die tun das nicht, weil vor allem ihr Berufsbild das nicht erfordert und weil es ja grundsätzlich ein Organ gibt, das sie schützt im Falle des Falles.

Jemand, der trotzdem sich bewaffnet, macht sich erst einmal grundsätzlich zu einer zwielichtigen Person, finde ich. Die Zeiten von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" sollten doch eigentlich vorbei sein. Man arbeitet, wenn man sich auf das Argument "ich muß Pfefferspray (oder ein Messer oder eine Schreckschußpistole) mit mir führen", psychologisch gesehen an seiner eigenen Wahrnehmung der Gesellschaft.
Ich möchte aber anderen kein Mißtrauen entgegenbringen und noch viel weniger möchte ich dieses Mißtrauen gespiegelt bekommen.

Insofern hat das Tragen von Abwehrausrüstung für mich nichts mit Freiheit zu tun, sondern mit anerzogenem Mißtrauen. Mißtrauen gegenüber Situationen, die ich trotzdem durchlaufen muß (was ist wichtiger: der inhaltlich interessante Vortrag am Feierabend oder meine körperliche Unversehrtheit?), Mißtrauen gegenüber der Exekutive (daß sie nicht schnell genug vor Ort ist bspw.). Mißtrauen gegenüber allen, die gleichzeitig mit mir auf der Straße unterwegs sind.
An dem Punkt, wo ich das Pfefferspray oder was auch immer ich mit mir führe, wird es meines Erachtens zu einem Glücksspiel, ob es als Notwehr durchgeht oder doch als Körperverletzung des anderen.

Die gestrige Recherche hat mich übrigens in dieser Auffassung bestätigt.
Berlin: https://www.berlin.de/polizei/service/waffenbehoerde/erlaubnisfreie-waffen/
München: https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Kreisverwaltungsreferat/Jagd-und-Fischereiwesen/Waffenwesen-und-Sprengstoff/Waffenschein.html

Meines Erachtens kann man hier sogar eine Art Schrödinger-Gleichung aufstellen: bleibt die Wahrscheinlichkeit, daß ich angegriffen werde, mit und ohne Pfefferspray gleich? Könnte es nicht auch sein, daß der andere durch mein Verhalten ablesen kann, daß ich mich so unsicher fühle, daß ich einen Abwehrgegenstand mitführe? daß er diese Unsicherheit ausnutzt?
Letzten Endes bleibt doch auch beim Verteidiger ein psychologisches Trauma zurück.

Sorry, Yasmin und Uli, daß Ihr jetzt evtl. etwas lesen mußtet, was Ihr gar nicht lesen oder hören wolltet. Ich nehme bei Dingen, die mir wichtig sind, hier genauso wenig ein Blatt vor den Mund wie viele andere. Manchmal kann ich vorher mein Mütchen kühlen und behalte meine Meinung dann für mich. Ich komme aber immer öfter zu dem Schluß, daß das keine sinnvolle Strategie ist. Schließlich ist Steemit auch für viele zu einem Ort geworden, wo sie Gedanken, die sie sich sonst verbieten, freien Lauf lassen. Ich habe eine Zeitlang von jemandem anderen vorgelebt bekommen, wie es ist, alles bis ins kleinste Detail auszudiskutieren. Jetzt bin ich selbst in dem Alter und kann auch oft nicht anders. (Ich finde das übrigens grundsätzlich doof. Und ziehe auch deshalb Shitstorms auf mich. Mit anderen Worten: es spielt für mich einfach keine besondere Rolle mehr, inwieweit meine Meinung gefällt.)

Ich weiß, daß dieser Artikel negative Reaktionen auslösen wird, weil er vielen nicht in den Kram paßt, allen voran einer Person, die (unglücklicherweise?) gestern selbst geschrieben hat (Zitat): mir geht es in erster Linie um die Verbreitung falscher Informationen. (Ein wahrlich guter Spruch für jemanden, der zugibt, Öffentlichkeitsarbeit [für Waffenhersteller] zu machen. ;))
Diese Reaktionen gehen mir völlig am Allerwertesten vorbei, da sie im Affekt geschrieben werden. Jener ist nie ein guter Ratgeber, vor allem in Notsituationen nicht. Deshalb und nur deshalb haben strenge Waffengesetze meines Erachtens einen Sinn und die Nichteinhaltung nichts mit Freiheit zu tun.
Den Hinweis auf ein gewisses Entscheidungsspektrum eines Richters als Infragestellen des Rechsstaates zu bezeichnen - kann man machen, muß man aber nicht. Geschickte Öffentlichkeitsarbeit sieht meines Erachtens freilich anders aus, aber wenn das vermeintlich anonymisierte An-den-Pranger-Stellen Andersdenkender dazu führt, daß man ne dicke Steempower-Delegation hinterher geworfen bekommt, weil ein Kurator (ja, ich habe hier eine Einzelperson in Verdacht) ein spezielles Bild von Freiheit hat, tja, dann ist zur der inhaltlichen und sozialen Qualität dieser Plattform eigentlich alles gesagt.
Aber ich geh hier auch mit dem Mißtrauen ran, das mir in den letzten Jahren anerzogen wurde.

Ups, jetzt ist es letzendlich doch eine Abrechnung, stellenweise auf Sandkastenniveau, geworden statt eines inhaltsorientierten Beitrages.
Aber immerhin weiß ich, daß ich übe, Konflikte auszuhalten, sachorientiert zu argumentieren usw. Und irgendwann werde ich im realen Leben davon profitieren.

Versuch eines Fazits zum Inhalt: Notsituationen sind immer traumatisierend, eine Dose Pfefferspray oder eine PTB-Waffe leistet da keine psychologische Abhilfe, im Gegenteil. Derjenige, der zum Erwerb von diesen Dingen rät, ist mit sehr sehr sehr großer Wahrscheinlichkeit in der Notsituation nicht bei Euch und macht sich auch sonst keine Gedanken darum, wie es Euch mit der ganzen Situation geht. Ggf. wird er oder sie den Gebrauch nicht mit Euch üben noch auf negative Aspekte eingehen.
Informationen zur Rechtslage stehen in großer Zahl im Internet (z.B. in einer gewissen epischen Breite hier), auch die lokale Polizeiinspektion gibt sicher gern Auskunft.
Letzten Endes ist und bleibt jeder seines eigenen Glücks oder Unglücks Schmied.

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Danke für den guten Artikel! Viele hier auf Steemit schreien nach Freiheit und beschimpfen alles was ihnen nicht in den Kram passt. Dabei merken sie gar nicht, dass sie die Freiheit deren Mitmenschen nur für ihr eigenes Ego und ihre Vorteile strickt beschneiden wollen. Mit anderen Worten sie sind die wahren Asozialen.

Ich stimme Dir da -als im Grunde überzeugter Pazifist - in weiten Teilen zu und hatte mir diesbezüglich auch lange Gedanken gemacht.
Die Sache mit der "Unsicherheit", der Ausstrahlung bewerte ich aber genau anders herum: Ich fühlte mich MIT dem Zeug in der Jackentasche wesentlich sicherer in jeder Situation und hatte das wohl auch ausgestrahlt. Ich hatte beinahe 15 Jahre mitten in Berlin-Kreuzberg gewohnt und das Zeug nie auch nur ansatzweise gebraucht.
Das änderte sich ja erst mit einem der Ersten Besuche im Ostteil der Stadt. Die 3 Typen (Alle Ur-Deutsch, sei dazu noch betont) hätten mich auf der Stelle zusammengeschlagen und waren im Begriff eine teure Fotoausrüstung "zu vernichten" weil sie dachten sie seien auf einem der Fotos. Jeder Versuch, einfach die Fotos zu zeigen wurde abgelehnt. Ich reagierte erst als Einer meine Kamera hatte und der Andere mich am Kragen. Also Körperkontakt.
Polizei war wohl durch Passanten verständigt und traf dann ne knappe Stunde später ein.
"Nie wieder Ohne" seither!
Eine Pistole oder gar ein Messer bewerte ich anders! Du musst die Hürde abzudrücken, oder gar jemanden ein Messer in den Körper rammen erstmal überwinden. Da sehe ich keine Chance für mich.
So ein Spray ist letztendlich aber niemals tödlich und angeblich nicht mal eine ernste Gefahr für Augen oder Schleimhäute. Es gibt Dir bestenfalls einfach die Zeit abzuhauen.
Hm - und gerade als Frau? Man geht doch nicht leichtfertig damit um.

Ich erinnere mich dunkel, daß in einem Selbstverteidigungskurs, zu dem ich dann doch mal geschickt wurde, die Empfehlung war: ggf. Gegenstände zurücklassen und machen, daß man wegkommt.
Das mit der Nicht-Gefahr hat man ja bei Stuttgart21 gesehen ...
Wann hast Du Dir das letzte Mal nach dem Schneiden von Chilischoten ins Auge gegriffen? ;)

Polizei [...] traf dann ne knappe Stunde später ein.

Scheinen großstadtübliche Zeiten zu sein. (Ich hab mal nach einer beobachteten Fahrerflucht, bei der sich am stehenden Auto das Kennzeichen zu lösen begann, auch eine Stunde gewartet ...) Inzwischen hab ich aber in München auch schon andere Antwortzeiten erlebt.

Ja,"Selbstverteidigung" ist grundsätzlich eine gute Idee. Der lernt man ja eben auch das Ausstrahlen von "Sicherheit" und heikle Situationen zu vermeiden.
Die Horrorvorstellung ist von so einer Kinderbande aufs Korn genommen zu werden. Man kann sich doch gegen Kids nicht mit einer Waffe verteidigen. Also ist Wegrennen wohl immer die Erste Wahl. Bei einer Fototasche mit 5K€ Inhalt kostet das aber ECHT Überwindung.
Sei noch der Kommentar eines Polizisten festgehalten der dann später den Job hatte mich verhören zu dürfen. Er hatte bereits Zeugenaussagen von Passanten vorliegen:
"Alles richtig gemacht, und nächstes Mal bitte wieder GENAU SO". Die kennen zum Glück ihre Pappenheimer und die Typen hatten dicke Akten.
Insgesamt war das - mit 54 Jahren - sicher die heikelste Situation meines Lebens. Ich gehe Krawall auch viel lieber aus dem Weg und halte mich an den Grundsatz: "Wird die Luft dick, mache Dich dünn".