DAS KARTENWERK / THE RELATIONSHIP MAPPING

in hive-146118 •  3 years ago  (edited)

Sie war kein besonderer Mensch sondern ein durchschnittliches Wesen, das sich bemühte, seine Aufgaben zu erfüllen, nicht aufzufallen und anonym zu bleiben: eine mittelmäßige Schülerin, die Partnerin eines gewöhnlichen Mannes und die Mutter eines Sohnes, der nur für ihre Augen der Schönste von allen war.

Als das Kind heranwuchs und sie ihren Mann altern sah, fühlte sie sich manchmal einsam, so als schwebe sie über einer Wolke, die sich aus der Verankerung gelöst hatte. Sie machte lange Spaziergänge und als sie eines Tages unter einem Baum saß, dessen Wurzelwerk den Erdboden des Parks in Quadrate einteilte, wünschte sie sich plötzlich mit fast schmerzhafter Intensität von Freunden umgeben zu sein. Da kam ihr der Gedanke eine Graphik aller ihrer Beziehungen aufzustellen und sehr bald wurde diese Idee zu einer wahren Besessenheit.

Sie erstand bei dem Papierladen, wo sie ihren Künstlerbedarf einkaufte, ein riesiges Kartonblatt, das ein Maler bestellt und nie abgeholt hatte, sowie ein Packet qualitativ hochwertiger Filzstifte. Zuhause angekommen war die Wohnung leer wie so oft, denn der Sohn war beim Fußball und der Mann irgendwo. So legte sie den Karton auf den Boden und schrieb in die Mitte ihren Namen; den des Sohnes und dessen Vater ganz in die Nähe, und verband sie mit dicken Strichen mit dem ihren. Sie ordnete die Familienangehörigen ihrerseits und seinerseits darum umher an und während sie schrieb und schrieb, erinnerte sie sich an immer mehr Personen, die mit ihr in Beziehung standen: Verwandte, Freunde, Bekannte und Leute, die sie nur einmal getroffen hatte und die ihr dennoch aus den verschiedensten Gründen im Gedächtnis geblieben waren.

Um den Karton optimal zu nutzen schrieb sie mit immer kleineren Buchstaben und auch die Verbindungslinien zu ihrem eigenen Namen -und denen der Mittelsleute wo es welche gab - wurden dünner und passten sich dem verfügbaren Platz an. Sie konnte an nichts anderes mehr denken: tagsüber notierte sie auf einem Block die Personen, an die sie sich erinnerte und spät abends oder nachts, wenn die beiden anderen schliefen, holte sie den eingerollten Karton aus dem hintersten Teil des Wohnzimmergardine hervor, breitete ihn auf dem Boden aus und schrieb mit verschieden farbigen Filzstiften nach einem geheimen Code, der ihre Gefühle diesen Menschen gegenüber wiedergab. Ihre Handschrift wurde wieder gefällig, gerundet und gleichmäßig wie in früheren Jahren und sie erlaubte es sich mit etwas Bosheit Fehler in die Namen einzubringen, wenn sie die Betreffenden gar nicht mochte. Die von ihr Geliebten und Geschätzten hingegen fügte sie immer wieder ein, so dass ihr Sohn Dutzende von Malen auf der Karte stand und auch der Name ihrer einzigen geliebten Schwester, die in einem anderen Land lebte, sich vielmals wiederholte.

Sie sah nicht fern, las auch keine neuen Bücher mehr und mußte sich anstrengen, um dem Kind bei den Hausaufgaben zu helfen. Des öfteren brannte ihr das Abendessen an, wenn sie überhaupt daran gedacht hatte einzukaufen. Dagegen war sie besessen davon, Leute kennenzulernen und fragte alle nach ihren Namen. Längst hatte sie Blätter an das Kernstück anfügen müssen und auch schon mehrere Packungen Filzstifte verbraucht.

Am Weihnachtsabend beschloss sie, Mann und Sohn ihre Beziehungskarte vorzustellen. Sie hatte die Wohnzimmermöbel zusammengeschoben und nur in einem Winkel eine geschmückte Tanne aufgestellt. Die handschriftliche Riesengraphik füllte den Rest des Raumes aus. Mann und Sohn waren sehr beeindruckt und liefen in Filzpantoffeln auf der Karte herum. Zuerst gebückt und dann auf Knien suchten sie bald zwei Stunden nach auch ihnen bekannten Namen und feierten jeden Fund mit Gelächter und Händeklatschen.

Beim Abendessen jedoch drückten die Beiden Zweifel an ihrem Projekt aus.

-Den Namen meiner Großmutter Sophie habe ich nicht entdecken können.

-Ich habe sie nie kennengelernt. Sie starb bevor wir voneinander wußten.

Ihr Mann zuckte mit den Schultern und aß weiter.

-Mama, und meine Schulfreunde seit der ersten Klasse? Die waren alle mal bei uns zu Hause, aber auf der Karte kann ich sie nicht finden.

-Du hast Recht, Liebling! Ich habe nicht an sie gedacht. Schreib mir ihre Namen auf und ich suche Plätze für sie.

-Warum stehe ich so oft auf der Karte?

-Weil du für mich das Wichtigste auf der Welt bist und ich immer an dich denke.

Ihr Mann sah sie von der Seite an.

-Die Farben haben auch eine Bedeutung, oder?

Sein Blick ruhte auf dem Sohn, der nachdenklich im Blumenkohl herumstocherte.

Sie schob sich hastig etwas in den Mund. So konnte sie nicht antworten...

-Mach dich nicht weiter lustig über mich! -ihr Mann war wirklich verärgert- über das Kind brauchen wir nicht zu sprechen, aber deine Schwester in Himmelblau?! Ich hab sie ohne zu suchen mindestens achtzehn Mal gesehen!

Sie konnte und wollte nichts erklären. Er stand auf und trug seinen Teller in die Küche.

Sie liebkoste die Schulter ihres Sohnes.

-Dann sagst du mir, wie deine Freunde heißen, um sie einzutragen?

-Nein, Mama, ich will lieber selber eine Karte machen. Gibst du mir einen Karton und Filzstifte?

Er vergaß den Nachtisch und ging in sein Zimmer.

Sie klappte den Tisch zusammen und arbeitete weiter an ihrem Kartenwerk.

Einige Tage später verlangte ihr Mann die Scheidung.

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THE RELATIONSHIP MAPPING

She was no special person, just a normal human being that tried to cope with her circunstances without calling the attention and staying anonymous: an average student; the partenaire of a very common man and the mother of a son who was the best looking for her eyes only.

As the child grew up and she watched her husband get older, sometimes she felt lonely as if floating on top of a cloud that had lost its anchorage. She went for long walks by herself and one day, sitting underneath a tree whose roots drew squares on the soil of the park, she experienced an almost painful wish to be surrounded by friends.

Instantly she conceived the thought to work out a graphic showing all the people that were in some kind of relationship with her. The more she considered it, the better she liked the idea and very soon it became a real obsession.

At the papestry where she usually got her artist's materials from, she bought a package of high quality feltmarkers and a giant cardboard that a painter once asked for but never came to pick up. When she arrived home, the flat was empty as usually: the son was in his football class and her husband somewhere else. She put the cardboard on the floor and wrote her name in the middle, her son's and his father's close by and united them with bold strokes with her own. Then she went on with the relatives on her side and on his and while she wrote and wrote, she continued to remember more and more people that somehow were related to her: kinswomen and kinsmen, friends, acquaintances and persons she only had met once but who nevertheless and due to several reasons had conquered a place in her memory.

In order to make most of the space she went on with her task using smaller letters and thinner communication lines between her own name and the others' and those of the ones in between. Unable to think of anything else she spent her days putting down on a writing pad the persons she remembered or got to know and late in the evenings or at night, when the other two slept, she took the rolled cardboard out of the last part of the sittingroom curtain, extended it on the floor and scribbled with feltmarkers following a secret colour code that expressed her feelings towards the persons she included in her graphik.

Her caligraphy regained rounded forms, beauty und uniformity as in years gone by, and with a touch of malice she allowed herself to introduce spelling errors in the names of the people she did not like. On the contrary, when she loved and appreciated someone she mentioned that person repeatedly... Thus her son's name could be found dozens of times and the name of her only beloved sister, who lived in another country, showed up again and again.

She did not watch television, read no new books and only with an effort she was able to help her son with his homeworks. Frequently she burned dinner if she did not forget to do the shopping to start with.

It became an obsession for her to get to know new people whom she always asked for their names. Since long ago she had had to paste extensions on to the central cardboard and had spent already several packages of felttipped pens.

On Christmas Eve finally she decided to show the relationship mapping to her husband and her son. She pushed together the sittingroom furniture and only in a far corner she found room enough for a fir tree with season's ornaments. The handmade giant graphik filled completely the rest of the room. Her husband and her son were very impressed and with great care they walked in feltslippers all over the map. Then they doubled over and finally went down on their knees looking for names of people they knew, celebrating each item they discovered with salves of laughter and looking satisfied and clapping their hands when they found and identified another one.

Nevertheless when some time later they sat down to dinner, both began to express doubts referring to her projekt.

-I have been unable to discover the name of my grandmother Sophie.

-I never met her. She died before we knew of each other.

Her husband shrugged his shoulders and continued eating.

-Mama, what about my class mates since the first form? They all came to our place but I have not been able to find them on the map.

-You are right, Darling! I have not thought of them. Write down their names for me and I will look as where to put them.

-Why is my own name so often on the map?

-Because to me you are the most important being of the whole world and I am always thinking of you.

Her husband look at her sideways.

-Surely the colours, too, have some meaning, haven't they?

His look was fixed on his son who pensatively poked at his couldiflower.

Hastily she shoved something into her mouth. This way she was unable to answer...

-Do not keep pulling my leg! -her husband was really angry- We will not discuss about the child, but your sister in pale blue??? I have seen her name at least 18 times!

She couldn't and wouldn't explain anything. He got up and carried his plate into the kitchen.

Softly she stroke her son's shoulder.

-Will you tell me all your friends' names to put them on my relationship map?

-No, Mama, I prefer to make a map of my own. Will you give me a cardboard and feltmarkers?

Forgetting all about the dessert, he went to his room.

She cleaned the table and continued with her writing.

A few days later, her husband asked for a divorce.

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  ·  3 years ago (edited)

Sehr schöne Story.
Ich bin Hin- und hergerissen, wen ich hier mehr bedauere. Die Frau, die möglicherweise im krankhaften Wahn ihr bisheriges Leben zu rekapitulieren versucht, um dadurch der Einsamkeit zu entfliehen. Oder den Mann, dem offensichtlich klar wurde, welch dürftige Verbindung zwischen ihm und der Frau bestand oder mit der Zeit entstand. Oder doch eher den Jungen, der zum Trennungskind wird...

Vielen Dank für deinen Kommentar. Es tut sehr gut zu sehen, wie aufmerksam du meine Geschichte gelesen hast. Ich bedauere -wie du- alle drei...

Sehr traurige Geschichte, für alle Beteiligten.

Kurios: ich hätte erwartet, daß sie die richtigen Schlüsse aus ihrer Beziehungsgrafik zieht, und nicht ihr Mann...

Es waren wohl die 18 himmelblauen Erwähnungen der Schwägerin, die den Knackpunkt schufen. Jejeje

Das sagst du, und so magst du die Geschichte fortspinnen.
In meiner Fantasie läuft sie bis dahin aber anders weiter: Sie entdecken die Differenz zwischen erwünschten und realen Beziehungen, sie entdecken, dass sie die jeweiligen Beziehungen gar nicht einseitig (ohne das jeweilige Gegenüber und dessen Sicht auf die Beziehung) angemessen einordnen können. Sie entdecken, dass sie nicht in die Mitte gehören. Sie entdecken die Beweglichkeit, die Veränderlichkeit des Geflechts, das wie ein Myzel wächst, in dem aber auch Teile absterben. Sie entdecken eine "dritte Dimension" über und unter ihren flachen Kartenwerken...

Chapó... wiedermal hast du die größere Sichtweite (!).

Ergab sich blinderlinx.
;-))

Ich bekam deine Geschichte vorgelesen und hatte sehr viel Spaß dabei. Die Idee ist großartig, die Schilderung mehr als gekonnt, und der Inhalt fiktiv. Daher konnte ich keinerlei Traurigkeit empfinden, zumal zwar die erzählte Geschichte um ist, aber nicht die Situation:
Was findet der Junge heraus? Wie kommt die Frau aus der Nummer raus, die ihr aus dem Ruder gelaufen ist? Wann beginnt der Mann mit seinem eigenen Kartenwerk und entschuldigt sich dann bei seiner Frau? Wann beginnen beide damit, historisierende Kartenwerke anzulegen, also solche, in denen sie sich zu rekonstruieren versuchen, wie es vor zehn oder zwanzig Jahren aussah?
Spannend, spannend, spannend! Neben mir liegt ein Zettel........
Eigenartigerweise hätte ich nicht den Gedanken, meinen eigenen Namen, also mich selbst in die Mitte zu platzieren. Die zentrale Hauptperson wäre für mich eine andere.

Vielen Dank für deinen weiterverweisenden Kommentar. Ich würde schon mich selber in die Mitte stellen ( habe diese Idee schon seit langer Zeit ). Un abrazo